Manuskripte 2023

Kirchentag in Nürnberg

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Sperrfrist
Do, 08. Juni 2023, 11.00 Uhr

Do
11.00–13.00
Hauptpodien | Hauptpodium
Ist die Demokratie krisenfähig?
Auf dem Weg zu einem neuen Gesellschaftsvertrag
Prof. Dr. Sophie Schönberger, Rechtswissenschaftlerin und Autorin, Düsseldorf

Niemand ist eine Insel, so hat es der englische Dichter John Donne im 17. Jahrhundert formuliert. Diese lyrische Weisheit, die prägnant die elementaren Bedingungen jeder sozialen Existenz zusammenfasst, ist durch unsere Erfahrungen der letzten Jahre während auf erstaunliche Weise brüchig geworden. Seid eine Insel! So könnte man jedenfalls die Maßnahmen plakativ zusammenfassen, die ab März 2020 zur Eindämmung der Corona-Pandemie politisch getroffen wurden und unser bisheriges Verständnis von gesellschaftlichem Zusammenleben zumindest vorübergehend grundlegend auf den Kopf gestellt haben. Jeder Kontakt mit anderen Menschen wurde zur Gefahr. Zwischenmenschliche Begegnungen sollten nach offizieller Empfehlung der Bundesregierung „auf ein absolut nötiges Minimum“ reduziert werden. Am besten, man blieb ganz zu Hause, und zwar allein. Nun sind diese Maßnahmen mittlerweile längst aufgehoben. Aber sie haben uns doch eine sehr grundlegende Frage hinterlassen: Was ist dieses absolut nötige Minimum an zwischenmenschlichen Begegnungen? Wie viel Cocooning, wie viel Rückzug und wie viel Einsamkeit sind möglich, ohne dass die Gesellschaft als Gemeinschaft Schaden nimmt? Wie viel Raum kann das Ich einnehmen, ohne dass das soziale Wir zum indifferenten, wenn nicht gar feindlichen Ihr wird? Die Pandemie mag diesen Fragen vorübergehend eine besondere Dringlichkeit gegeben haben. Ihre Bedeutung reicht allerdings weit über diese globale Ausnahmesituation hinaus. Denn die Frage nach dem Verhältnis von Individuum und Kollektiv gehört zu den elementaren Fragen, die sich in jeder Form von Gemeinschaft stellen. Dies gilt auch und gerade für eine Gemeinschaft, die sich politisch als Demokratie konstituiert und so den anspruchsvollen Schritt von einer unverbundenen Gesamtheit von Personen zu einem demokratischen Verband gehen muss.

Über die Bedingungen, unter denen sich ein solcher Prozess vollzieht, wissen wir nach wie vor relativ wenig, obwohl sie den Boden bilden, auf dem jede demokratische Ordnung steht. Ohne Selbstverständnis als Gemeinschaft können demokratische Willensbildung und demokratische Selbstbestimmung nicht funktionieren. Demokratie ist keine one-man-Show, kein individuelles Selbstverwirklichungsprojekt und kein Ego-Trip. Die „Herrschaft des Volkes“ setzt voraus, dass sich so etwas wie ein „Volk“ im Sinne einer demokratischen Gemeinschaft überhaupt erst einmal konstituiert und als Kollektiv begreift. Damit muss jeder der an ihr Beteiligten nicht nur bereit sein, sich mit den anderen Mitgliedern der demokratischen Gemeinschaft überhaupt in einer Einheit zusammenfassen zu lassen. Demokratie setzt darüber hinaus auch voraus, jeden Einzelnen dieser Gemeinschaft als grundsätzlich gleich zu akzeptieren, seinen Interessen, seinen Wünschen, seinen Meinungen und Ansichten also dieselbe Berechtigung zuzuerkennen wie den eigenen. Sie verlangt außerdem von uns, eine demokratisch gefasste Mehrheitsentscheidung als verbindlich anzuerkennen, auch wenn man sie für noch so falsch, irrational, schädlich oder widersinnig hält. Damit macht die Demokratie uns nicht nur das große Versprechen demokratischer Freiheit, das heute sehr stark im Mittelpunkt der Perspektive auf die Demokratie steht. Untrennbar mit dieser Freiheit verbunden ist die demokratische Gleichheit, die allerdings in zunehmenden Maße nicht mehr als Versprechen, sondern vielmehr als Zumutung wahrgenommen wird. Wenn wir heute Vormittag über die Krisenfestigkeit der Demokratie sprechen, dann hat diese Krisenfestigkeit ohne Zweifel mit demokratischen Institutionen zu tun, mit politischen Akteuren, mit dem Zustand unserer Verfassung und seiner Verfassungsgerichtsbarkeit. Abersie hängt eben auch sehr stark am Zustand der demokratischen Gemeinschaft als Gemeinschaft von Gleichen, oder anders, individueller formuliert, mit der Bereitschaft jedes und jeder Einzelnen die Anderen als gleich auszuhalten. Mit dieser Notwendigkeit, den Anderen als gleich auszuhalten, ist ein nicht unerheblicher Zwang zur Konformität verbunden, der in einem gewissen Spannungsverhältnis zum großen demokratischen Freiheitsversprechen steht. Gerade weil die liberale Demokratie keine Rousseausche volonté générale erfordert, also keinen umfassenden Konsens der am demokratischen Prozess Beteiligten, setzt sie doch gleichzeitig zumindest voraus, dass die Minderheit sich der Mehrheitsentscheidung unterwirft, sich ihren normativen Wirkungen anpasst und damit letztlich zumindest in äußerer Konformität zu ihr lebt. In einer Gesellschaft, die zunehmend vom Ziel der Individualität und dem Ideal der Selbstoptimierung geprägt ist, ist diese Anforderung allerdings nicht unproblematisch. Denn jedenfalls in der (weit verstandenen) bürgerlichen Mitte der Gegenwartsgesellschaft schwindet die Vorstellung, dass Konformität innerhalb der Gesellschaft per se ein wünschenswerter Zustand ist. Nicht die Anpassung an die herrschenden Standards in Mode, Bildung, Beruf, Ernährung, Familie und Freizeit erscheint erstrebenswert, sondern umgekehrt die maximale Verwirklichung der eigenen Person durch Individualität in all diesen Bereichen. Diese Entwicklung lässt den Preis, den die Demokratie erfordert, auf einmal subjektiv als höher erscheinen. Denn bei der Frage, als wie groß die Zumutung empfunden wird, in der demokratischen Gemeinschaft gleich gemacht zu werden, ist die Vorstellung vom eigenen (un-)konformen Leben zentral. Je konformer das Bild des Einzelnen von sich selbst ist, desto leichter fällt es ihm oder ihr tendenziell, die demokratische Gleichheit auch dann zu ertragen, wenn die Mehrheit der Gleichen eine andere Auffassung vertritt.

Genau diese Anforderung wird aber zunehmend prekär in einer Gesellschaft, die vom Leitbild der Einzigartigkeit, der Authentizität des eigenen Lebens und der Selbstoptimierung geprägt ist. Wenn, wie in Frankreich, 35 Prozent der Menschen der Auffassung sind, sie hätten nichts mit ihren Mitbürgern gemeinsam, dann wird es immer mühsamer die Überzeugung aufrecht zu erhalten, dass es legitim und notwendig ist, sich der Entscheidung einer Mehrheit von Menschen unterwerfen zu müssen, mit denen man sich durch nichts verbunden fühlt. Kann man die Entscheidung der Mehrheit in keiner Weise mehr auf das eigene Selbst zurückführen, weil man sich nicht als Teil der demokratischen Gemeinschaft identifiziert, wird die Idee von Demokratie als Herrschaftsform der Selbstbestimmung dann in der eigenen Wahrnehmung schnell umgedreht zu einer Diktatur der Mehrheit.

Als zentrale Schaltstelle, an der sich diese Entwicklungen politisch kanalisiert, erweisen sich dabei populistischer Strömungen, die seit einigen Jahren national wie international an Zuspruch gewinnen und die im Hinblick auf die Krisenfestigkeit der Demokratie wohl zu den zentralen Bedrohungsszenarien gehört. Den Anderen nicht auszuhalten ist das Kerngeschäft des Populismus. Dabei soll der oft schillernde Begriff hier mit Jan-Werner Müller als Politikvorstellung verstanden werden, nach der einem moralisch reinen, homogenen Volk stets unmoralische, korrupte und parasitäre Eliten gegenüberstehen, die zwar über das Volk herrschen, aber eigentlich gar nicht wirklich zum Volk dazugehören. In Deutschland ist es vor allen Dingen die AfD, die das populistische Modell in die politische Auseinandersetzung trägt. Sie grenzt nicht nur systematisch etwa Zugewanderte und Muslime aus der Gemeinschaft aus. Auch die von ihr so genannten „Altparteien“ werden als Feindbild inszeniert, als korrupte Eliten, gegen die sich die Partei als Vertreterin des wahren Volkes wendet. Da werden die Politiker anderer Couleur schon einmal in der Hitze des Gefechts als „Volksverräter“ beschimpft.

Der Reiz dieses politischen Modells für seine Anhängerinnen und Anhänger liegt darin, dass es von einer wesentlichen Zumutung der Demokratie entlasten soll. Denn das populistische Gedankengerüst beruht darauf, das grundlegende demokratische Gleichheitsversprechen aus der Demokratie zu eliminieren. Der, der als anders definiert wird, mit dem man nicht übereinstimmt, ja mit dem man sich vielleicht sogar durch überhaupt nichts verbunden fühlt, wird nicht als gleich akzeptiert, wird nicht als möglicher politischer Gegner ausgehalten, sondern wird einfach aus dem demokratischen Substrat, dem Volk, wegdefiniert – auch wenn er oder sie im formalen Zuordnungssinne noch so sehr dazugehört. Nicht demokratische Gleichheit ist also Basis dieses Systems, sondern vielmehr Gleichartigkeit. Wer nicht so ist wie ich, wer nicht dieselben Interessen, Bedürfnisse, Ziele und Meinungen hat, der gehört eben nicht zum „wahren“ Volk und wird so aus der (schein-)demokratischen Gemeinschaft ausgeschlossen. Die Notwendigkeit, ihn als gleich auszuhalten, entfällt, die Zumutungen der Demokratie werden radikal verkürzt – freilich um den Preis, auch ihre Errungenschaften einzuebnen, nämlich die gleiche Teilhabe aller, die nach formalen Kriterien zur demokratischen Gemeinschaft gehören.

Auch wenn Populisten daher in ihrer Rhetorik sehr stark mit der vermeintlichen Einheit des Volkes (das natürlich nur ‚ihr‘ Volk ist) arbeiten: Ihr eigentliches Modell besteht darin, die Bürger so weit wie möglich zu spalten. Ihre Schlüsselstrategie liegt in der Polarisierung: Die demokratische Gemeinschaft wird in Gruppen aufgeteilt, von denen nur die eigene als legitim anerkannt wird. Alle anderen werden hingegen als irgendwie illegitim oder sogar als existenzielle Bedrohung dargestellt. Aus diesem Grund wird auch das demokratische Obsiegen der „anderen“ Seite im Wege der Mehrheitsentscheidung zum existenziellen Problem. Denn wenn die Meinungen und Interessen der „anderen“ Seite nicht als legitim anerkannt werden, dann gilt das auch für die Mehrheitsentscheidung, wenn die „andere“ Seite gewinnt. Damit holen Populisten ihre Anhänger genau bei dem Gefühl ab, den Anderen nicht mehr aushalten zu wollen.

Die eigene Position wird verabsolutiert, die andere Position derart als nicht anerkennenswert markiert, dass sie nicht mehr ertragen werden muss. Diese Abgrenzung, die es ermöglicht, für sich immer noch den Anspruch demokratischer Politik aufrechtzuerhalten, obwohl man im Grunde schon die einfache demokratische Mehrheitsregel nicht akzeptiert, basiert auf einem einfachen Trick, einer gleichzeitig grundlegenden und banalen Selbsttäuschung. Denn nach dem eigenen Verständnis weiß derjenige, der in populistischen Strukturen denkt und sich von populistischer Politik angesprochen fühlt, von ganz allein, was die Meinung des Volkes ist. Deshalb erübrigt sich auch die Notwendigkeit, diese Meinung durch demokratische Formen erst zu ermitteln. Diese quasi hellseherischen Fähigkeiten erwirbt er oder sie durch einen grotesken, aber gleichzeitig sehr menschlichen Fehlschluss, indem er schlicht die eigene Meinung mit der Meinung des Volkes gleichsetzt. Das wird selten so ausgesprochen und dürfte den meisten Beteiligten oft gar nicht bewusst sein, ist aber letztlich die Basis des populistische Politikmodells. Die kollektiven und individuellen Zumutungen, die die Demokratie bereithält, werden hier um den Preis aufgehoben, mit ihren Zumutungen auch die Demokratie über Bord zu werfen. Wenn einerseits die Gruppenzugehörigkeit über die Übereinstimmung mit der eigenen Meinung konstruiert wird und andererseits jeder, der nicht zu dieser Gruppe gehört, aus dem ‚wahren‘ Volk herausdefiniert wird, sind auf einmal alle negativen Aspekte der Demokratie beseitigt. Diejenigen, die man als strukturell anders empfindet, muss man dann genauso wenig im demokratischen Sinne als gleich akzeptieren wie diejenigen, die vielleicht nach vorher festgelegten Kriterien strukturell gleich, aber im Einzelfall doch anderer Meinung sind als man selbst. Damit entfällt dann jegliche Notwendigkeit, die eigene Person im Rahmen demokratischer Herrschaft zu relativieren. Aber gleichzeitig entfallen auch die Grundbedingungen der Demokratie.

Auf diese Weise zeigt sich, dass es im Kern des Populismus nicht nur um eine überhöhte Form von Gemeinschaftsvorstellung geht, die auf der Idee struktureller Gleichartigkeit beruht. Mit seiner Idee der Gruppenorganisation nach Meinungszugehörigkeit stellt er vielmehr eine spezifische Lösung für die Probleme der individualisierten spätmodernen Gesellschaft bereit, indem er die als narzisstische Kränkungen erlebten Zumutungen des Zusammenlebens relativiert oder sogar eliminiert. Er macht damit ein auf die Spätmoderne perfekt zugeschnittenes Angebot, indem er ihre Gegensätzlichkeiten scheinbar mühelos vereint und die Einbettung in eine Gruppe gleichzeitig mit der maximalen Verwirklichung der eigenen Person verspricht.

Wie kann die Demokratie nun auf diese Entwicklung reagieren? Wie kann sie sich vor diesem Hintergrund als krisenfest aufstellen? Ein wichtiger Schritt wäre es in jedem Fall, stärker die Tatsache in den Blick zu nehmen, dass das demokratische Projekt und die dahinterstehende Bereitschaft, sich als Gemeinschaft zu begreifen, nicht allein rational erklärt werden können. Da Menschen, die sich zu einer demokratischen Gemeinschaft zusammenschließen, immer zumindest auch irrationale Wesen sind, lassen sich die Zumutungen, die die Demokratie für sie bereithält, nicht allein über einen verstandesbetonten Zugang abmildern und erträglich machen. Demokratiepolitik, die tatsächlich die Akzeptanz der Demokratie verbessert und damit zu ihrer Stabilität beiträgt, muss immer auch eine Politik der Irrationalitäten sein.

Dies bedeutet nicht, dass Demokratiepolitik selbst irrational sein sollte. Aber das ihr zugrundeliegende Demokratie- und Politikverständnis sollte berücksichtigen, dass die geistige, rationale Seite des Menschen eben nur ein Aspekt seines Daseins ist und diese Seite daher auch nur für einen (vermutlich sogar vergleichsweise kleinen) Teilseines Handelns verantwortlich ist. Wenn Demokratiepolitik heute in erster Linie als Bereitstellung demokratischer Bildungsangebote begriffen wird, bei denen mit den Mitteln des intellektuellen Austauschs für die Demokratie geworben wird, so muss dieser Ansatz höchst unvollständig bleiben. Um die Grundbedingungen der demokratischen Gemeinschaft aufrecht zu erhalten, müssen daher auch demokratische Begegnungsangebote gemacht werden. Sie können das Zusammenfinden in der Demokratie zwar weder anordnen noch erzwingen. Aber es lässt sich doch in nicht unerheblicher Weise die Infrastruktur beeinflussen, die demokratische Begegnungen und damit das Einüben des Sich-Aushaltens erleichtern oder eben auch erschweren kann. Die denkbaren Maßnahmen, die Teil einer solchen Wende sein könnten, sind vielfältig und selten neu, müssten aber unter dem Stichwort der Demokratiepolitik jedenfalls neu entdeckt werden. Städtebau und Stadtplanung gehören hierzu, also etwa die Anlage von öffentlichen Parks und Plätzen. Auch die Bereitstellung und der Erhalt bezahlbarer Wohnungen in beliebten Innenstadtlagen stellen sich vor diesem Hintergrund nicht nur als Maßnahmen der Sozialpolitik, sondern auch als Element der Demokratiepolitik dar. Die Liste möglicher Ansatzpunkte ist lang und reicht von Skaterparks und Freibädern über neue, als Orte der Begegnung gestaltete Bibliotheken bis hin zu traditionellen Eckkneipen oder den in Nordrhein-Westfalen mittlerweile zum immateriellen Kulturerbe zählenden sogenannten Büdchen.

Keiner dieser Bausteine wird für sich allein in der Lage sein, die Demokratie krisenfest zu machen oder die Krise der demokratischen Gemeinschaft ad hoc zu lösen. Aber gegen die Erosion demokratischer Errungenschaften gibt es ohnehin keine Wunderwaffe. Demokratiepolitik kann immer nur eine Politik in kleinen, aber beständigen Schritten sein. Und diese Schritte sollten am Ende dazu führen, dass man in der Demokratie aufeinander zugeht und sich erträgt, statt einfach auseinanderzudriften.


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